Granitene Klänge um alte Mauern

So alt. Tallinn ist 1200 gebaut worden. Ich schlich durch die engen Gassen, die Häuserschluchten verschlucken sich gegenseitig. Manche Wände sind schief. Manche Fenster riechen nach dem Leder der Kaufleute, die dort vor vielen hundert Jahren ihre Kontore aufbauten. Die Mauern und Wachtürme erinnern an jenes eine Aufbaustrategiespiel von 1998, das im Namen das lateinische Wort für „Jahr“ trägt. Hügel hinauf, Granitpflastersteine, buckelig, schief, ungerade. Ehe ich mich versehe, durchquerte ich das Stadttor, an den Türmen vorbei und landete am Hafen. Ende Gelände, schon wieder. Dort warten bröselige Betonbuchten auf russische Kriegsschiffe, die nicht mehr kommen. Was in der Altstadt für Charme sorgt, stößt am Wasser ab. Und überhaupt will das Touristenauge nur das schöne Alte sehen. Außerhalb verfällt das ein oder andere Haus.

Vor zwei Tagen fuhren wir mit Jonathan und Rauno in ein verlassenes, verfallenes Industriegebiet. Große Stahltür auf, stiegen wir in den ersten Stock einer alten Fabrikhalle. Dort ist ein Studio eingerichtet. Von 8 bis Mitternacht nahmen wir dort Demos für zwei Songs auf. Jonathan Flack, australischer Singer- Songwriter mit Stimme und Sinn für Feeling. So viele ‚S‘ in einem Satz.
AusdemTaxirausWindgrauvioletterHimmelBeginnenderRegenSturmKrachBlitzZuckReinTreppenhinaufMuffeinesaltenKellersundjahreabgestandenesÖlausderPanzerwerkstatt
Dann standen wir in einem hohen Raum, der noch immer Sowjet aussah. Draußen krachte und windete es. Das hohe Fenster hinaus zeigte ein Ineinanderschlieren von Grau, Weiß, Violett. Und dazwischen die gleißenden, zuckenden Adern vom Himmel zur Erde. Mit Kraft zogen die Wolken über den Kontinent. Wir arbeiteten lange an zwei von Jonathans Songs und beide strahlen mit Leben und Groove. Jonathan als Sänger und Gitarrist, Rauno, estländischer Drummer, ich am Bass, Chris E-Gitarre, Marilla Zweitstimme und Andrew am Didg und Geige. Imrer nahm auf. Kurz darauf war es Mitternacht. Wir mussten vorher raus. Der Wachdienst für das weite Gelände lässt die Hunde los. What? Yeah, no joke. Dann waren wir draußen, die Schranke am Eingang schloss sich, ein hohes Tor dahinter schloss sich. Mir blieb nur der Blick auf das Warnzeichen für die Hunde. Mit gefletschten Zähnen und Klauen sagte es deutlich: Versuche lieber nicht reinzukommen.
Wir beschlossen, Montag noch einmal aufzunehmen. Da wir als Backingband mit Jonathan noch neu waren, fanden wir zunächst die Richtung der Songs und werden am Montag Nägel mit Köpfen machen.

Gestern mein Tallinnwalk. Danach war ich fast eine Stunde im Supermarkt. Einkaufen ist schwer, wenn man nicht weiß, was in der Schachtel is, sobald kein Bild mehr drauf ist. Briefmarken gecheckt und wieder zurück zur Basis. Dort warteten Marilla und Andrew auf uns, es gibt im Innenhof eines Gymnasiums eine große überdachte Bühne, auf der man spielen kann. Wollen wir das machen? Klar- los. Eine Viertelstunde laufen später stehen wir auf diesem Hof. Ein kleiner Torbogen führt hinein. Wiese. Rankpflanzen. Weiße Wände. Alte Häuser. Mitten in der Altstadt. Wir gehen zur Bühne, die Organisatoren freuen sich über die Musiker. Auf der Wiese liegen bequem Gäste. Verstreut auf Bänken, Decken, Sitzkissen. Eine Blumenwiese bei der die Blumen Oasen zum Abtauchen sind. Um die Welt aus der Kinderperspektive zu besehen.
Wir fangen an zu spielen. Was? Es entsteht, während wir im Klang verschwinden. Ich male eine Klangwolke in die blaue Stunde, Chris begleitet mich augenblicklich und Andrew findet seine Leiter hinein. Marilla singt weit tragende Töne in die Luft. Der Ausblick ist eine Zeitreise. Die Bühne steht gegenüber des Torbogens, der den Eingang zum Hof bildet. Über ihm jagen alte Mauern empor. Fenster, schiefe Dächer. Im Hintergrund stapelt sich Stein für Stein der Rest der Stadtmauer hinauf, bis man auf eine ehrwürdige Festung schaut. Selbst draußen unter freiem Himmel widerhallt die alte Stadt. Ich hatte nie vorher das Gefühl, Straßen, Gänge, Gassen und dicht gebaute Häuser mit Klang zu füllen. Wie durch Kanäle hinauf schob sich unsere akustische Erfindung, unser Jam, unser Adventure.
Danach spielten wir ein paar Stücke aus unserem Repertoire, zusammen mit ein paar lokalen Musikern, die einstiegen. Am Ende hatten wir einen Gig mehr am Start, nachher geht es dort wieder hin für einen kompletten Auftritt. Danach spielen mit Jonathan und Rauno bis tief in die Nacht noch einen Gig in einer Bar. Ich bin gespannt auf das Gefühl Tallinn im Tiefschlaf.

Die beste Info heute: Auf einer Tour durch die Stadt erfuhr ich, dass die Zeitreise ins 13. Jahrhundert in Tallinn nur möglich ist, weil zu Zeiten der Modernisierung die ‚Eesti‘, wie sie sich nennen einfach mal bankrott waren! Ha. Es gab kein Geld für Neubauten! Man stelle sich das vor! Aus dieser Not und dem Fortschreiten der Zeit ist also unsere Möglichkeit entstanden, diese ewig alte Stadt zu betrachten. Damals kotzten wohl alle ab, Mist, wir bleiben zurück. Hunderte Jahre später macht diese vergangene ‚Zeit‘ aus, dass wir zurückreisen können. Trivia. Aber höchst interessante Konstellation für mich.