Tourblog // Haap? Salü!

Ein Paket Leben: Gehe um Mitternacht in eine Ofensauna. Heize auf 90°. Zieh’s durch. Gehe danach kalt duschen. Dann hinaus, auf die Wiese neben dem Wald. Die Wolken, die zur Küste reisen und vom Licht der alten Stadt sichtbar gemacht werden, schau sie lange an. Berühre mit deinem Körper den Wind, der sich zusammen mit den Wolken aufgemacht hat, das Meer zu besuchen. Lausche den Eichen, lausche den Birken. Öffne das Paket: Lege dich rückwärts ins regennasse, kalte Gras. Bleib liegen. Schau in die schwarze Nacht. Fühle.

Keine Zeit dazwischen gehabt. Freitagabend hatten wir das zweite Konzert auf dem Schulhof. Dort waren vorher ein paar Jazzkids am Start, die allesamt ‚andere‘ Instrumente spielen, als die, an denen sie dort gerade tätig waren. Ein Akkordeonist als Drummer, ein Pianist als Bassist und so lala. Tatsächlich wussten die schon, was sie machten und witzig war es darüber noch, weil es überall wackelte. Danach lernten wir ein paar Leute kennen, die auf der Sofawiese es sich bequem machten und jammten ein paar Songs in Eesti und Englisch. Musik verbindet. Klingt wie ein Kultusministerentwurf, stimmt aber. Wir liefen weiter durch die erleuchtete Altstadt und landeten in einem Restaurant namens „Clayhills“. Dort spielte Jonathan und Rauno schon ein Set. Wir würden später dazu stoßen. Die Bühne- ha – ein Schaufenster von 1,50×2 m. Überall Leute und dann wird aus so einem Puppentheaterlook eine echte Party. Wir standen zu viert in diesem Fenster, Jonathan, Marilla, Rauno und ich. Andrew und Chris saßen unten und schmierten mit ihren Instrumenten durch die Bratensoße der Gäste. Die Leute hatten ordentlich Laune und: Um ein Uhr nachts in Tallinn „We come from a land down under“ zu spielen – Original von den Aussies – streichelt das Fernweh.

Genusseinwurf: Warmes, cremebraunes Milchmischgetränk in roter Tasse auf gelbem Träger. Zweimal.

Abkürzungseinwürfe:

Nach dem Gig frachtete uns Rauno auf eine Party in Kalamaia, einem kleinen Bezirk von Tallinn. Draußen. Bäume, Farben, Electro. Unverputzte Industriegebäude, Mauern aus weißen Sandsteinen. Kenne ich noch aus Erichs’ Zeiten. So sahen die attraktiven Partys in Berlin vor ein paar Jahren aus. In den Gassen hängen die Youngsters herum, bringen Leben in die von Touristen befreiende Nacht.

Samstag Gig im 20st century. Davor gab es ein klärendes Streitgespräch. Häng lange mit denselben Leuten irgendwo herum und dann ist die Frage, was man mit den entstehenden Differenzen macht. Wegtun und schöninterpretieren oder raus damit? In einem Buch oder Gefühl konservieren und verarbeiten oder finstere Blicke üben? Einige Dinge, die für das gute Zusammenspiel auf einer zwischenmenschlichen Ebene wichtig sind, waren mir einen Streit wert. Schwierig war dabei, nicht zu wissen, wie andere Kulturen mit Diskussionen und Streit umgehen. Ich bin so herausgegangen: Ecken und Kanten geklärt, jeder weiß, wie er mit dem anderen klarkommt. Aber bleibt nicht der Eindruck, man fährt über nackte Füße, sobald man ‚redet‘ worüber nicht geredet werden will?

Sonntagabend dann der Hosteljam. Ich habe fast drei Stunden am Stück gespielt. Davon waren gut 80 Minuten purer Rhythmus. Viele Percussionisten, ein paar Gitarren und das australische Didg wandelten die Lounge des Hostels in einen orientalischen Klangkörper. Eine weitere Reise ins Exotische, ins Farbenspiel. Auf dieser Reise traf ich auch Bruno wieder. Der Schlagzeuger vom ersten Schulhofjam, kam auch zur Session und wir kamen ins Gespräch. Nach einigen Strahleaugen meinerseits, stand der Plan fest: Am Montag mache ich einen Ausflug. Bruno bot mir an, mitzukommen.

Die Geschichte:

Montag, vorher: Studio. Zwei neue von Jonathans Songs spielte ich um die Mittagszeit ein. Ein Techniker namens Casper. Könnte deutsch sein, so rahmenhaft arbeitet er. Als ich fertig war, musste ich schnell zurück, um meinen Link zu bekommen. Durch den Regen klackerten meine Schuhe über das alte Kopfsteinpflaster, schnell Tasche packen! Kurz später saß ich bei Bruno im Auto, der noch einen 9. Klässler in seine Heimatstadt mitnahm. Bruno drückte mir gleich eine Art Quark-Rosinenblechkuchen in die Hand. Mal probieren? SchussTrefferVersenkt! Der Fahrer grinst, der Beifahrer ist still bei lecker Kuchen. Das war so gut und anders als bekannt. Nächste Offensive: Ich bekomme ein dunkles, estnisches Brot geschenkt. Braun wie eine Bitterschokolade. Nachdem ich einige schon probiert hatte, postuliere ich hiermit: Brot in Estland ist ebenbürtig, wenn nicht besser als in Deutschland! Das heißt was. So gut, so lecker. Zeilen mit dem Feiern über Essen zu verschwenden, macht immer Laune :). Mein Geschenk ist darüber hinaus ein Vampirvertreiber mit 50 Meter Umkreiswirkung, so viel Knoblauch ist da drin. Brot Estland – Deutschland 1:0! (Wer mir den Vergleich als zu ernst übelnimmt, guckt in den Spiegel und versucht mal mit der Hand eins der beiden Augenlider zu schließen und wieder zu öffnen. Und, geht?)
Wir fuhren über die Autobahn nach Westen, bis raus an die Küste in die kleine Stadt Haapsalu. Verbrachten einen fetten Abend. Zum Schluss öffnete ich das Paket Leben.

Heute morgen lief ich durch die Stadt und erforschte dann das alte Schloss. 1228 als Kloster erbaut, später zum Schloss erweitert. (Sogar mit Geheimtunnel ins 3km entfernte Nachbardorf, wow!) Gern in Geschichte zugehört, weiß ich, dass die Mittelältler alle etwas hobbitartiger von ihrer Körpergröße am Start waren. Aber letztlich durch diese kleinen Steindurchgänge zu schreiten, das Raue, Unnachgiebige des damaligen Lebens auf dem Schloss nachzuvollziehen, war beklemmend. Die steinernen Kellergewölbe, die höhlenartigen Räume, keine Heizung, keine nennenswerte Wärmedämmung. Einige Räume waren nur Löcher im Dreck.
Im Schlossturm war das Hospital. Ok- Ich hab’ einen Pflichttermin beim Arzt im Turm? Nach ‚diesen‘ Bildern der Behandlungsmethoden, die dort aushingen, hätte man mich mit einer Seilwinde hochschleifen müssen! Schmiedezangen, Keile & Schwerter- für den Arzt! Das Instrumentarium wurde aus der Werkstatt zweckentfremdet, so sah es aus. Auch wenn diese Darstellung auch von den Fähigkeiten des malenden Künstler abhängt. Aber wie rabiat manche Methoden, vor allem beim Zahnarzt, auch waren: Verstanden haben die Menschen damals, dass sie die Kranken von den Gesunden fernhalten müssen. Daher auch das Hospital im Turm, weit oben, frische Luft, keine anderen Menschen. Alte und Kranke, sie waren eine Gefahr für das gesunde Schlossvolk. Heute sind wir an Heilung gewöhnt, mit Kranken in Kontakt zu kommen, spielt für uns weniger eine Rolle. Damals war es gefährlicher.
Gemütlich war es später trotzdem, innerhalb des Geländes zu laufen; um das Schloss herum beschützte eine Mauer ein noch größeres Areal.

Jetzt nähere ich mich Tallinn. Ich sitze im Bus. Servicedetail: In diesem Bus gibt es Strom. In diesem Bus gibt es freies Internet. Yeah. Wlan Router an board und dann über das Funknetz in die Welt.

Zuetzt: Was den gestrigen Abend so Klasse machte, war der Umstand, dass ich mit Bruno einen fantastischen Kite Lehrer kennengelernt habe! Einen lange gehegten Wunsch habe ich mir gestern Abend erfüllt, an der Ostseeküste Estlands: Das erste Mal kiten! Yeah! Eigentlich ‚nur‘ ein großer Lenkdrachen, aber man kann mit ihm fliegen und im Wasser ne Menge Spaß haben. Loopings drehen und Sounds produzieren. Es war ein Anfängermodell, Folienbauweise. 2 Quadratmeter Fläche. Aber es zog schon ordentlich. Was für ein spänstiges, wendiges Viecht, ich nannte das Ding: Robo.

Und ich kann mir gar nicht erklären, wer da diese Seile hinabgelassen hat…

da hoch?
da hoch?